Ein Plädoyer für Europa
Das »Casino zu Coblenz« beging sein jährliches Gründungsfest in den Räumen der Debeka mit dem als Festredner geladenen Dr. Jürgen Rüttgers
Wieder einmal hatte sich der Gründungstag der traditionsreichen Gesellschaft »Casino zu Coblenz« gejährt. Und wie jedes Jahr beging die Vereinigung von Bürgern aus diesem Anlass auch in diesem Jahr ein Fest, zu dem – wie schon in den Jahren zuvor – ein namhafter Referent, ein Politiker, eingeladen wurde. Nach Geißler und Lammert in den letzten beiden Jahren, konnte zum jetzt 205-jährigen Bestehen Dr. Jürgen Rüttgers gewonnen werden. Der 1951 in Köln geborene CDU-Politiker war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und von 1994 bis 1998 Bundesminister im fünften Kabinett Kohl. Seinen Festvortrag stellte er unter die Überschrift
»Vor der Krise, nach der Krise – Herausforderungen für Politik und Gesellschaft«.
Olaf Schwickert, Abteilungsdirektor der Debeka Krankenversicherung, begrüßte in Vertretung des Vorstandes die zahlreichen Gäste in der Mehrzweckhalle des Hauses, die nur zu wenigen besonderen Gelegenheiten im Jahr so gut gefüllt sei. Ein solcher Anlass sei jetzt schon zum vierten Mal das Gründungsfest der Casino-Gesellschaft. Das sei zwar nur eine kurze Zeitspanne im Verhältnis zu der Dauer des Bestehens der Gesellschaft, aber dennoch ein gutes Zeichen für die gute Verbindung beider Häuser.
Ein besonderes Verbindungsglied sei für ihn das Stichwort »Unternehmer«. Ihre Gründer nennt die Casino-Gesellschaft Unternehmer, Menschen, die etwas unternehmen. Und das täten eben auch die Mitarbeiter der Debeka, der erfolgreichsten Versicherungsgruppe in Deutschland. Mit Zahlen über die Beschäftigen, über die neu geschaffenen Arbeitsplätze im letzten Jahr sowie über die bundesweit installierten Arbeitsplätze unterstrich er seine Aussage. Genau wie bei der Casino-Gesellschaft würden zudem auch bei der Debeka Traditionen eine große Rolle spielen. Dazu gehörten die beiden Grundsätze, die sich das Unternehmen seit Gründung im Jahr 1905 als Philosophie auf die Fahne geschrieben hat. Das sei zum einen das Angebot der bestmöglichen Leistung für Mitglieder und Kunden und zum anderen sichere Arbeitsplätze und überdurchschnittliche Sozialleistungen für die Mitarbeiter. Eine weitere Gemeinsamkeit von Casino und Debeka sei das Mitgliedschaftsprinzip. Dass die Anzahl der Debeka-Mitglieder allerdings viel tausendfach höher ist als bei der Casino-Gesellschaft, in der rund 400 Bürger vereint sind, ließ er unerwähnt.
Hans-Jörg Assenmacher, der vorsitzende Direktor des »Casino zu Coblenz« begrüßte die Gäste des Gründungsfestes und führte einmal wieder vor Augen, welchen Wandel der Zeiten die Traditions-Gesellschaft überstanden habe und dass sie noch nach zwei Jahrhunderten als lebendige Vereinigung im Mittelpunkt des bürgerlichen Lebens, in der Mitte der Stadt stehe. Als solche sei es ihr wichtig zu dokumentieren, »was in Koblenz unterwegs ist«. Dazu nannte Assenmacher eine andere Traditions-Gesellschaft in Koblenz, der sich »Casino zu Coblenz« eng verbunden fühle, denn sie sei ein ebenso fester Bestandteil des reichen Kultur- und Gesellschaftslebens in der Stadt . Es handelt sich dabei um den »Katholischen Leseverein«, der ein lebendiges, breites bürgerliches Engagement in Koblenz repräsentiere. Er wird in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiern.
Von einem anderen guten, starken Pflänzchen, das immer weiter wachse und gedeihe, hatte sich die Casino-Gesellschaft gleich zwei Ableger zum Gründungsfest eingeladen. Damit waren gemeint die beiden Absolventen der 2007 gegründeten »Koblenz International Guitar Academy«, die Gitarristen Russell Poyner und Pavel Shamshura. Mit einer Suite aus dem 16. Jahrhundert hatten sie das musikalische Entrée des Abends geboten.Unternehmen bedeute auch Engagement. Gesellschaftliches Engagement stuft die Casino-Gesellschaft hoch ein.
Um einmal öffentlich zu machen, wie wichtig es ist, wird am 07. Mai 2013 bei dem alle zwei Jahre ausgerichteten CasinoFORUM das bürgerliche Engagement in den Mittelpunkt gestellt, kündigte Assenmacher eine der nächsten Veranstaltungen an.
Einen eleganten Übergang auf den folgenden Vortrag von Dr. Jürgen Rüttgers fand der Casino-Direktor mit der Definition des Wortes »Krise«. Dieser aus dem Griechischen stammende Begriff beinhalte eine wie ein Janus-Kopf geartete Doppeldeutigkeit: Der Streit einerseits, oder die Entscheidung andererseits. Die Krise spüre man als Ringen im Konflikt um eine Lösung. Die jetzt seit Jahren durchlebte Krise, sei nicht ein einziger Konflikt, sondern ein Wandel. Davon zeigte sich Assenmacher überzeugt.
Überzeugt davon, dass die Krise nicht vorbei sei, ein extremer Wandel noch bevorstehe, ist auch Rüttgers, der sich mit dieser Äußerung der Meinung von Bundeskanzlerin Angela Merkel anschloss. Zu überwinden sei die Krise nur, wenn es der Zivilgesellschaft gelänge, sich ein gemeinsames Ziel zu setzen in Europa. Die Rheinländer schien er dafür besonders befähigt zu halten, denn er bezeichnete sie als offene Menschen, die ein Gefühl dafür haben, was wichtig ist und wofür es sich lohnt, sich einzusetzen. In einem Atemzug mit dem Wort Krise sprächen Politiker gerne über Herausforderung und davon, dass alle sich anstrengen müssen. Und häufig falle dabei der Satz: „Der Weg ist das Ziel“. Entgegen seiner früheren Ansicht, findet Rüttgers den Satz heute dumm, wie er einräumte. Man verlaufe sich dabei eben sehr schnell.
In den nächsten Jahren sieht der Politiker große Herausforderungen auf die Bürger Europas zukommen. So würden die Beziehungen der Staaten untereinander gänzlich neu ausfallen, die Karten würden neu gemischt. Manche würden sogar behaupten, die Weltordnung des Westfälischen Friedens von 1648 gehe in diesen Tagen zu Ende. Mit einer einfachen aber klaren Geste unterstrich Rüttgers diesen Satz, wie er es auch bei anderen Gelegenheiten immer wieder einmal gerne tat, während er ansonsten beide Hände auf dem Redepult aufstützte. Sich auf die verändernden Beziehungen einzustellen, sei eine Notwendigkeit, fuhr er fort. Anhand von beeindruckenden Zahlen verdeutlichte er, wie sich die Bevölkerung Europas zu der der Weltbevölkerung entwickeln wird. Um 1900 habe noch rund 20 Prozent der Weltbevölkerung in Europa gelebt. Hundert Jahre später waren es nur noch etwa 11 Prozent und für 2050 würden nur noch gut vier Prozent prognostiziert. Wieviel Einfluss welcher Kontinent hat, hängt natürlich davon ab, wieviel Menschen wo leben. Demnach werde China (nach zweihundert Jahren wieder) eine ganz besondere Rolle übernehmen. Rüttgers vermutete jedoch auch, dass Amerika trotz all seiner Probleme weiter so stark bleibe, dass es die Herausforderung dieses neuen Chinas aufnehmen und sich ihr stellen werde. Was bleibe dann von Europa, fragte er provokativ.
Eine weitere Herausforderung wird das große Thema Energiewende sein, stellte Rüttgers heraus. Das Öl- und Gaszeitalter schien schon vor Jahren seinem Ende entgegen zu gehen, doch jetzt gäbe es immer wieder, selbst in Nordrhein-Westfalen nach dem Ende der Steinkohle, ein Nachdenken über einen Fortbestand von Gas als Energieträger. Die große Klagewelle und nicht enden wollende Diskussionen auf hohem Niveau würden jedenfalls nicht weiterhelfen. Manche Dinge sollte man gelegentlich nehmen wie sie sind und gucken, »wie wir damit fertig werden«, empfahl er. Für eine zuverlässige Energieversorgung plädierte er persönlich zudem deutlich für die Variante »Hochspannungsleitungen«. Erdkabel seien viel teurer und strahlten darüber hinaus Wärme ab, die die Bodenfeuchtigkeit negativ beeinflusse. Sicher sei, dass die Energiewende teuer werde, teurer als gedacht. Auch wenn, anders als die Amerikaner, die er als Optimisten auch in Niederlagen bezeichnete, die Deutschen eher Pessimisten auch im Erfolg seien, sei er sicher, dass »wir es schaffen werden, wenn wir versuchen, es ordentlich in den Griff zu bekommen«.
Schließlich hätten wir doch allein in der kurzen Zeit der letzten sechzig Jahre, was heute nicht einmal mehr einem menschlichen Leben entspräche, eine große Anzahl von Veränderungen im Land geschafft. Er erinnerte an den Wiederaufbau, die Währungsreform, das Wirtschaftswunder, den Mauerbau, die soziale Marktwirtschaft, die Wiedervereinigung und vieles mehr.
Als zu bewältigende Herausforderung sieht Rüttgers auch den demografische Wandel, der schon seit Jahrzehnten diskutiert werde. Da stelle sich einem doch die Frage, warum Gesellschaft und Politik das Thema nicht endlich aufgreifen, obwohl doch eigentlich ein umfassendes Wissen dazu vorliegt, was auf unsere Gesellschaft zukommen werde. Aus den Erkenntnissen müsse ein Schlüssel dazu gefunden werden, etwas zu tun. Mit dem Hinweis, auch die »Debekaler« beschäftigten sich mit dem Thema immer wieder neu, schon allein wegen der Verzinsung der Produkte, stellte Rüttgers einmal wieder die Verbindung zum Hausherrn der Veranstaltung her. Sicher sei, dass die Bevölkerung Deutschlands um 15 bis 17 Millionen Einwohner zurückgehe in den nächsten fünfzig Jahren. »Wir werden es erleben!«, sagte er, wie wir es in einigen östlichen Bundesländern schon jetzt erleben. Obwohl das Land jedes Jahr 185 Millionen Euro für Familienpolitik ausgebe, habe das an den Geburtenraten bislang erkennbar nichts geändert.
Adenauer, der 1957 »Kinder bekommen die Leute sowieso« im Zusammenhang mit dem »Generationenvertrag« der gesetzlichen Rentenversicherung sagte, habe damit eben total daneben gelegen. Aber trotz dieser Entwicklung seien die Deutschen kein sterbendes Volk, entwarnte Rüttgers. Dass es kein wirtschaftliches Wachstum mehr gebe, wenn die Bevölkerungszahlen abnehmen, sei falsch. Man müsse sich eben Gedanken darüber machen, wie das aufzufangen sei. Abgesehen davon könne der Mensch grundsätzlich durchaus auch ohne Wachstum leben. Allerdings zur Tilgung des riesigen Schuldenberges werde weiterhin ein wirtschaftliches Wachstum benötigt. Ein weiteres Problem ist, dass nicht nur die Bevölkerungszahl zurückgehe, sondern die Gesellschaft auch älter wird. Schon jetzt gratulierten die Bürgermeister nur noch den Hundertjährigen, fügte er als amüsantes aber doch Hinweis gebendes Anzeichen an. Mit siebzig Jahren sei man heute nicht mehr alt. Wäre das so, würde die Kreuzfahrtindustrie zusammenbrechen, meinte er augenzwinkernd. Und so krank, wie man es den Alten gerne unterstellt, seien sie auch nicht. Das zeige die Statistik, nach der die Anzahl an Krankheitsfällen bei den Menschen ab Mitte Dreißig bis ins hohe Alter ungefähr gleich bleibe. Münteferings Ansatz »Rente mit 67« sei Rüttgers Meinung nach das Wenige, was bisher passiert sei, um sich auf die demografischen Veränderungen einzustellen.
Man müsse mehr darauf eingehen, dass sich auch die Form der Arbeit verändert habe. Mehr Flexibilität und Mobilität wird verlangt. Als Beispiele nannte der Festredner Telearbeit, Zeitarbeit oder Arbeit in Teilzeit. Rüttgers glaubt fest daran, dass das altgediente »Renteneintrittsalter« bald abgeschafft werde. Jeder sollte für sich entscheiden dürfen, was, wie und wieviel er in welchem Alter arbeite. Das müsse nicht durch die Politik geregelt werden. Wer frühzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden möchte, dem solle die Möglichkeit bei entsprechenden Renten-Abschlägen gegeben werden. Und wer sich durch eine weitere Tätigkeit etwas zu seiner Rente hinzuverdienen möchte, solle das in unbegrenzter Höhe tun dürfen. Auch die Tatsache, dass die Anzahl an in Deutschland geborenen vaterlosen Kindern, also solchen, deren Väter nicht identifizierbar sind, von jetzt schon 37 Prozent auf bis zu 80 Prozent steigen werde, werde die Gesellschaft extrem verändern. Fehlende Kindereinrichtungen würden zu dem großen Problem der zunehmenden Altersarmut bei Müttern beitragen. Das werde bis zum Hartz IV-Niveau im Alter gehen. Eine Gesellschaft, die »Ja« zum Kind sage, müsse Voraussetzungen schaffen, die das »Ja« möglich machen.
Natürlich kam Rüttgers zum Thema Krise nicht an dem vorbei, was die täglichen Nachrichten füllt: Die Euro-Krise. Als erstes zog er symbolisch den Hut vor den enormen Anpassungsleistungen, die die Menschen in den extremen Krisenländern wie Griechenland, Portugal und auch Spanien vollbracht hätten. Über die Fortschritte, die durch ihren Verzicht erzielt wurden, sollte eigentlich möglichst jede Woche gesprochen und geschrieben werden. Allein für Griechenland nannte Rüttgers die Zahl 6,8 Prozent als ermittelten Exportanstieg. In Portugal und Spanien seien die Zahlen noch besser und Irland habe sogar einen Anstieg von 9,5 Prozent in 2012 ausgewiesen. Rüttgers bezeichnete dieses Europa als die Zukunft, die wir alle gemeinsam haben. Jetzt habe es, seiner Meinung nach, eine Krise der Ziellosigkeit und der Mutlosigkeit. »Wir müssen uns trauen, etwas anzupacken«, rief Rüttgers auf. Schließlich sei Europa das beste Projekt, das es je gegeben habe. Die Menschen steckten auch in einer Krise der Re-Sozialisierung. Es dürfe nicht immer alles nur darum gehen, was der Einzelne von einer Maßnahme habe. Die Idee Europas, seine Leitbilder seien Freiheit, Rechtsstaat und Solidarität. Es eine die Länder Europas keine gemeinsame Religion, keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Geschichte, aber eine gemeinsame Kultur.
Wie wichtig die Völkerverständigung in Europa ist, habe schon Adenauer erkannt, den Rüttgers als Revolutionär bezeichnete. Er habe als erster die innen- und außenpolitischen Wege verlassen, die schon jahrhundertelang gegangen worden seien. Sich um die deutsch-französische Freundschaft erfolgreich bemüht zu haben, war selbst in Adenauers Augen seine wichtigste Leistung als Politiker. Rüttgers denkt (und einige Gäste in der Halle nickten zustimmend), es sei für die Menschen so etwas wie eine Lossprechung gewesen, als de Gaulle im September 1962 auf dem Bonner Marktplatz die Deutschen als »das große deutsche Volk« bezeichnet hatte. Als Adenauer dann 1963 mit dem Elysee-Vertrag aus Paris zurückgekommen sei, der aus Erbfeinden Erbfreunde gemacht hat, sei zunächst ein Riesenschrei durch Deutschland gegangen, erinnerte Rüttgers, weil zunächst befürchtet wurde, dass Europa damit ende, bevor es überhaupt angefangen habe. Doch alle, die Bedenken gehabt haben, haben daneben gelegen, sagte Rüttgers überzeugt.
Er rüttelte auf: Jetzt müsse man den Mut dazu haben, im deutsch-französischen Verhältnis weiter zu gehen, damit der deutsch-französische Motor Europa weiter antreibe. Rüttgers zeigte sich zutiefst davon überzeugt, dass das der einzige Weg sei, mit den großen Herausforderungen, die vor uns liegen, fertig zu werden. Daran zu arbeiten sei aber nicht nur die Aufgabe der Politik, sondern erst einmal der Zivilgesellschaft, zu der auch die Gesellschaft gehöre, die an diesem Tag ihr Gründungsfest feiere.
Nach dem einstündigen Vortrag von Jürgen Rüttgers bedankte sich Assenmacher für dessen außerordentlich facettenreiche Rede. Sein klares Plädoyer für Europa habe gutgetan. Er habe alle Probleme nicht nur gestreift, sondern sie so eingeordnet, dass sie nicht Probleme blieben, sondern dass sie zu lösen seien. Er stimmte zu, dass über Ziele nicht nur geredet werden dürfe, sondern dass auch daran gearbeitet werden müsse, sie zu erreichen.
Als Dank überreichte Assenmacher Rüttgers unter anhaltendem Applaus der Geladenen die Festschrift der Gesellschaft »Durch alle Zeiten«, die aus Anlass des 200-jährigen Bestehens des »Casino zu Coblenz« herausgegeben wurde.
Bevor die Gäste der Einladung zum abschließenden Weinempfang im Foyer folgten, wo noch viele gute Gespräche über Europa, Deutschland und Koblenz geführt wurden, spielten die beiden Gitarristen, glänzend abgestimmt auf das Thema „deutsch-französische Freundschaft“ das im Jahr 1828 komponierte Stück „L’Encouragement“ von Fernando Sor. (Barbara Senger)
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Gründungsfest 2013